Franz Kafka wurde bisher vor allem als moderner Großstadtautor wahrgenommen. Prag bildete und bildet den spezifischen und unhintergehbaren Hintergrund für sein Leben und Schaffen. Allerdings: Explizit taucht die Stadt nur in sehr wenigen Texten auf – während doch ein recht großer Teil der Werke Kafkas in genuin ländlichen Milieus verortet und von spezifisch dörflichen und ruralen Topographien geprägt ist. Sei es nun im „Schloß“, im „Landarzt“ und in Erzählungen wie etwa „Kinder auf der Landstraße“, „Das nächste Dorf“ und „Eine kaiserliche Botschaft“ oder aber in Notizen (wie den „Zürauer Aphorismen“), Tagebucheinträgen (siehe z.B. „Verlockung im Dorf“ oder „Erinnerungen an die Kaldabahn“ aus dem Jahr 1914) sowie weiteren nachgelassenen Schriften (wie etwa „Der Dorfschullehrer“ oder die drei Fassungen der „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“): immer wieder wendet sich das Kafkasche Erzählen dem Leben auf und der Bewegung über Land zu. In den (nur vermeintlich) überschaubaren und narrativ kontrollierbaren (Versuchs-)Räumen des Dörflichen und Ländlichen verarbeitet und reflektiert es u.a. biographische Erfahrungen, psychische Vorgänge, soziale Verhältnisse, religiöse Vorstellungen, kollektive Mythen sowie subjektive Wahrnehmungsweisen von Raum, Zeit, Selbst – und unternimmt somit erkenntnistheoretische wie metaphysische Erkundungen. Dörfer und Landschaften werden dabei zu ambivalenten Modellen, in denen sich die Gegenwartserfahrungen und -erkundungen der Moderne erzählerisch verdichten.
Im Seminar wollen wir diesen Spuren ins Ländliche nachgehen, indem wir u.a. nach den Formen und Funktionen sowie Kontexten und Hintergründen des Ländlichen im Werk von Franz Kafka fragen – und damit gewissermaßen auch ‚Neuland‘ betreten. Denn das Seminar wird zugleich mit einer wissenschaftlichen Tagung verbunden sein, die erstmals die gesamte Breite des Themenspektrums zu erkunden versucht. Diese Tagung wird vom 30.03. bis 01.04. im Goethe-Institut stattfinden. Wir werden sie gemeinsam besuchen und in den Seminarablauf einbauen.